Jakob Ullmann über Juro Mětšk (Ausschnitte aus einer Radiosendung des Hessischen Rundfunks, 1993)


"es hätte auch anders sein können. KONTRAKTION Kontra-aktionen für kammerensemble", so lautet der etwas ungewöhnliche titel einer komposition von Juro Mětšk von deren uraufführung in donaueschingen 1988 Sie soeben den mitschnitt hörten. "Es hätte auch anders sein können", natürlich, die partitur des stückes etwa folgt nicht zufällig der stammbesetzung der "gruppe neue musik Hanns Eisler leipzig", denn das stück entstand auf anregung der programmplaner der "donaueschinger musktage" beim südwestfunk, deren idee es war, eine einladung an das besagte leipziger ensemble nach donaueschingen mit der vorstellung jüngerer komponisten aus der ddr zu verbinden. Die reaktion, insbesondere der veröffentlichte teil derselben war durchaus freundlich 1988 nach der uraufführung, das presseecho attestierte dem komponisten in aller regel gutes handwerk, man lobte die einbeziehung des akkordeon in ein stück neuer kammermusik, eine berliner kritikerin vermutete "eingesponnene bautzener avantgarde"; auch dies hätte selbstredend anders sein können, dennoch erscheint beides nicht wenig symptomatisch für die situation des komponierens, vielleicht der kunst der ddr überhaupt. Es erzeugt, im falle von Juro Mětšk vielleicht sogar noch mehr als anderswo, aber auch ein schiefes licht.

bautzen 1

Würde man unter den bewohnern der "alten bundesländer", unter den einwohnern westberlins eine umfrage starten, welche provinzstadt der ddr sie kennen, so hätte bautzen mit sicherheit die chance, einen der vordersten plätze in der häufigkeit der nennungen zu belegen. Wie keine zweite ist diese stadt zum synonym für unrechtmäßige gewaltanwendung, für willkürlichen freiheitsentzug, für politisch gesteuerte perversion des strafvollzugs und damit gleichsam zur gefangenen der an ihrem stadtrand gelegenen strafvollzugsanstalt geworden. Das nach der farbe seiner backsteine "gelbes elend" genannte gefängnis war (und ist) jedem bekannt, ob er auf der autobahn die 100-stundenkilometer-grenze überschritt oder in unbekannter umgebung politische statements abgab; "du kommst nach bautzen" war als drohung in der ddr schwer zu überbieten.
Bautzen als provinzstadt im osten deutschlands mit postkarten-idylle der alten wasserkunst über der spree, mit dem mittelalterlichen dom, einem einigermaßen schiefen torturm, einigen alten fassaden und dem in deutschen nachkriegsstädten offenbar unausweichlichen zeichen architektonischer fehlplanung in form mindestens eines in ort und gestaltung völlig deplacierten "neubaus" geriet darüber - vielleicht zu recht - in den hintergrund. 
Dabei hatte man gerade in bautzen durchaus und schon sehr viel länger als anderswo in deutschland sehr direkte erfahrungen mit staatlich verordneter gewalt, mit ideologischer bevormundung, mit trennungen und mauern sammeln können.

Während der reformationszeit etwa war es dem - vielleicht könnte man sagen - katholisch gebliebenen reformator Johannes Leisentrit gelungen, dem katholischen domkapitel des bistums meißen in bautzen ein spärliches überleben zu sichern, eine tatsache, die u.a. zur folge hatte, daß im bautzener dom ein gitter den katholischen teil der domkirche vom evangelischen schied, ein gitter, das erst nach den reformen des 2. vatikanischen konzils in den siebziger jahren deutlich erniedrigt und schließlich auf die höhe einer chorschranke gebracht wurde. Viel direkter als solche landesherrlicher religionsgewalt abgerungene sonderregelungen konnte gerade in bautzen das maß an toleranz erfahren werden, das die jeweiligen staatlichen organe den mitbürgern angedeihen ließen, die "irgendwie anders" sind. Bautzen gilt als hauptstadt der sorben, eines kleinen westslawischen volkes mit einigen zehntausend angehörigen, einer ethnischen minderheit also, die im verlaufe ihrer geschichte mehrfach die grenzen deutscher toleranz leidvoll erfahren mußte. Während es den in sachsen lebenden, meist der obersorbischen volksgruppe zugehörenden bewohnern in bautzen und umgebung relativ erträglich ging, waren die meist niedersorbischen bewohner der angrenzenden preußischen gebiete stärker und früher den auch anderswo geübten germanisierungsbestrebungen der preußischen verwaltung ausgesetzt. So kann es kaum verwundern, daß ein sorbe wie Juro Mětšk in zusammenhang mit dem bautzener gefängnis darauf hinweist, daß eben dieses gefängnis nach der deutschen reichsgründung 1871 von der kaiserlichen verwaltung auch aus gründen der disziplinierung sorbischer eigenständigkeit in bautzen gebaut wurde. Die jüngere geschichte der sorben birgt wenig überraschungen: vom nationalsozialistischen staat gegängelt und unterdrückt, ihrer vertretung, der 1912 als dachverband aller sorbischen vereine gegründeten "domowina", die 1937 verboten wurde, beraubt, waren die sorben vorzeigeobjekt sozialistischer nationalitätenpolitik in der ddr, schmückendes folkoristisches beiwerk bei all den staatlichen anlässen, anlässlich derer sich die diktatoren aller couleur gern mit kindern, frauen und kostümierten menschen umgeben. Die domowina, kurz nach der befreiung von der braunen mörderherrschaft wieder zugelassen, wurde willfähriges organ zur durchsetzung der sed-partei-interessen und konnte all die den sorben zugestandenen möglichkeiten in schulen, kulturinstituten, einem eigenen verlag nur da nutzen, wo es der führung in berlin opportun erschien. Wie das gegenwärtige deutschland mit dieser ethnischen minderheit, einem volk mit reicher sprach- und kulturtradition verfahren wird, muß sich erst zeigen; ob die bisherigen erreichten regularien ausreichend sein werden, steht dahin...
Ob das vorhin verklungene orchesterstück (titel?) mit seinen fünf sehr kurzen sätzen, die, trotz des durchaus als ziemlich derb gelten könnenden scherzes am schluß, deutlich eher die luft kompositorischen denkens der zwanziger/dreißiger jahre etwa im umfeld von Berg zu atmen scheinen, als die gleichzeitigen experimente in west- auch in osteuropa (in polen etwa mit der in der ddr durchaus für berüchtigt gehaltenen "polska aleatorika") nun als sorbisch zu gelten hätten, die folgenden "euphorischen komplexe" für klavier etwas wie ein "nationales kolorit" enthalten, mag jeder selbst entscheiden. Sie sind beispiele für das kompositorische denken eines ddr-komponisten nach der beendigung eines hochschulstudiums mitte der siebziger jahre; für einen zustand, als nach der großen Schoenberg-ausstellung in ostberlin die hoffnung keimte, daß die kulturelle bevormundung, hieß sie nun "bitterfelder weg" oder "formalismus-debatte" wenn nicht ad acta, so doch in die unteren schreibtisch-schubladen der beamteten kulturverwalter verbannt und nur noch in den köpfen besonders engstirniger partei-oberer  hin und wieder  zum ausdruck drängenden bestand von ddr-kulturpolitik gehören würde.


anfang der achtziger jahre

Juro Mětšk, der durch die vermittlung Jan Paul Nagels noch von Rudolf Wagner-Regenyi zum komponieren angeregt und dessen erste versuche ihn durch diese vermittlung schließlich an die ostberliner musikhochschule geführt hatten, meinte auf die frage, warum er ausgerechnet Reiner Bredemeyer als mentor an der ostberliner akademie der künste gewählt habe, ihn habe weniger die kompositionstechnik interessiert, da wäre sicher Friedrich Goldmann vorzuziehen gewesen, nein, die "menschliche ebene" wäre ihm bei Bredemeyer wichtiger gewesen. 
Im allgemeinen war es in der ddr ja so, daß die mentoren an der akademie der künste in der beurteilung der partituren ihrer meisterschüler nur einen teil ihrer aufgabe sahen. Die gewissermaßen "technische" hilfestellung trat nicht selten zurück hinter den bemühungen, für den schüler aufführungsmöglichkleiten und, womöglich,  internationale (sprich west-)kontakte herzustellen.
Dennoch war ende der siebziger, anfang der achtziger jahre für all die damals jungen komponisten, die an wie auch immer gearteten parteitags- und anderem sozialistisch-realistischem schnörkelwerk, am parfümierten duft für's regime nichts lag, eine andere adresse eigentlich wichtiger.
Der damals in weimar tätige fagottist und komponist Johannes Wallmann, selbst meisterschüler an der akademie der künste bei Friedrich Goldmann, bemühte sich in geradezu vorbildlicher weise mit gleichgesinnten jungen weimarer musikern aufführungen von kollegen auf die beine zu stellen, die sonst keinerlei chancen gehabt hätten. Zum teil konnten kontakte über die - in der ddr als "konkurrenz zu darmstadt" - stark überambitionierten geraer ferienkurse für neue musik und den pianisten und komponisten Hans-Peter Jannoch geknüpft werden, teils, kümmerte sich Johannes Wallmann selbst um die gleichaltrigen und etwas jüngeren kollegen. Von anfang an wurde Wallmanns arbeit stark behindert durch die tatsache, daß das, was er da machte, kaum das wohlwollen der funktionäre unterschiedlichster couleur erfuhr, da selbst da, wo auch sie das, was sie für "förderung junger talente" hielten, stets sie selbst oder besser gar nicht machen wollten, auf jeden fall versuchten, programmatisch und bei der auswahl der autoren ihren einfluß durchzusetzen. Es bedurfte immer wieder der aufreibenden suche nach partnern, mit deren hilfe man konzerte organisieren konnte. Partnern, die wie etwa Reiner Kontressowitz als lektor des deutschen verlags für musik über die möglichkeiten verfügten, säle zu bestellen, honorare zu zahlen und die kulturbürokratie möglichst weit außen vor zu halten. Da musiker, die einen ausreiseantrag gestellt hatten, in aller regel auftrittsverbot erhielten (ihren job verloren sie meist obendrein), gab es auch für Wallmann immer wieder probleme, die stammbesetzung seiner "gruppe neue musik weimar", die sich später programmatisch "gruppe neue musik Paul Dessau" nannte, zu halten. Die eingangs erwähnte "gruppe neue musik Hanns Eisler leipzig", deren weg mit der kompositorischen entwicklung der mittleren generation von ddr-komponisten verbunden war und es - bis heute zu ihrer vermutlichen auflösung - blieb, führte werke jüngerer komponisten (vor allem solange sie - insbesondere im westen - noch unbekannt waren) weitaus seltener auf. Für eine ganze reihe ostdeutscher komponisten waren die aufführungen durch die gruppe Johannes Wallmanns denn auch so etwas wie der start in's komponistenleben, Wallmann scheute nicht das risiko, sachen zu machen, wo noch nicht absehbar war, daß aus dem autor "etwas werden" würde oder wo der autor in der ddr als mißliebig galt. Ohne die arbeit Johannes Wallmanns hätte die geschichte von jungen komponisten in der ddr sicher anders ausgesehen.
Seitens der autoren wurde dieses angebot gern genutzt, es entstanden eine reihe von stücken für die besetzung der weimarer gruppe, die unter anderen umständen vermutlich eine veränderte besetzung und struktur erhalten hätten. Dies, wie gesagt, hätte auch anders sein können.
"SESTETTO" von Juro Mětšk ist ein typisches beispiel eines solchen stückes, das für die "gruppe neue musik weimar" geschrieben wurde


bautzen 2

Manch einem könnte es nach dem hören der letzten stücke scheinen, als hätte über diesem teil der sendung auch die zeile "O alter duft aus märchenzeit" stehen können. Man könnte meinen, doch einige jahrzehnte in der kompositionsentwicklung zurückversetzt worden zu sein; hier fände das urteil seine bestätigung, daß in der ddr die musikentwicklung westeuropas doch nur sehr partiell und sehr verspätet reflektiert worden sei. Ebenso könnte man die affinität deutscher provinz zu einer durchaus romantischen sicht der welt und zu ebensolcher disposition bei der reflektion des standes kompositorischen denkens vermuten, wofür der wunsch nach der präsentation eines werkes von Robert Schumann (in der sendung) ein weiterer beleg wäre. Zumindestens bedenkenswert erschiene mir aber in diesem zusammenhang nicht nur die konstruktion deutscher provinz und - man könnte es für schlimmer halten - deutscher heimatlichkeit eben durch die deutsche romantik im 19. jahrhundert, das seltsame überleben der heimat in der provinz ist vielleicht auch ein indiz dafür, daß in deutschland, anders als etwa in den osteuropäischen staaten, die romantik nie wirklich nach hause gekommen ist und daher bis heute die seltsamsten blüten treibt. Provinz als rückwärts gewandte utopie der heilen welt und selbst da noch, wo es scheinbar nur um den erhalt von biotopen geht, anfällig für den weg vom boden zum blut, sie könnte zur rechtfertigung und ideologischen untermauerung des "ungleichzeitigen", des "hinterherseins" und der gleichsam verschobenen zeit zitiert werden.
Im falle künstlerischen denkens in der ddr scheint mir aber gerade dies auf weite strecken nicht der fall zu sein. Selbst wenn man, wie Juro Mětšk - aus welchen gründen auch immer - die oberlausitzische provinz der "hauptstadt" vorzog, man wollte nicht hinterher sein, man war es hin und wieder (häufig gegen den eigenen willen). Dieser zustand, erleichtert durch eine kulturpolitik, die schon Schoenberg, ja selbst manchmal Stravinsky für ausgeburten schädlichen revoluzzertums hielt, schien man ehrlich auf der höhe der zeit, wenn man sich zu Schoenberg oder Webern bekannte. Die verspätung, mit der in der ddr kompositorische konsequenzen aus dem denken der 2. wiener schule gezogen wurden, sie hatte auch produktive seiten, weil - vermittelt durch lehrer, die noch in den fünfziger jahren in darmstadt waren - ideologische verengungen auf einen dogmatischen serialismus wenig platz greifen konnten. Daß sie häufig genug durch spätexpressionistische gesten kompensiert wurden, steht auf einem ganz anderen blatt.
"O alter duft aus märchenzeit", dieser verweis auf Schoenberg hätte im falle Juro Mětšks auch darin seine berechtigung, dass er ein bratschensolo geschrieben hat, das sich explizit auf "Pierrot lunaire" bezieht "...mit groteskem riesenbogen...". Dieses 1984 entstandene stück ist leider bisher nicht aufgenommen oder produziert worden, so daß es hier nicht vorgestellt werden kann. Die andere zeile aber könnte durchaus über dem streichquartett "accents antiques" stehen, die 1975 entstanden, einen gewissen wendepunkt darstellen im werk Juro Mětšks, auch wenn sich dies zunächst weniger in der harmonik und der reihenkonstellation als in der durchorganisation der mehrsätzigen anlage (so entspricht etwa der schluß dem krebs des beginns) zeigt.

Welche folgen die kontraktion katholischer und evangelischer, sorbischer und deutscher tradition als ehrlicher versuch Schoenberg'sches komponieren weiterzudenken 1975 hatte, ist nun zu hören.

Die ausparung bestimmter intervalle in der konstruktion der dem werk zugrundeliegenden reihe garantiert nicht zuletzt eine gewisse sprödigkeit des klanglichen ergebnisses, eine sprödigkeit, die sich allem vereinnahmenden wohllaut verweigert. Vielleicht ist dies das deutlichste erbe kompositorischen denkens in der ddr, aber es ist eine verweigerung der vereinnahmung der musik, die dennoch so beschaffen ist, daß mit ihr nichts anzufangen ist, wenn man mit ihr nichts anfängt, wie es der komponist ausdrückt.
Und dies, vielleicht, hätte nicht anders sein können.